Mittwoch, 8. Mai 2013

Dinge die dir in Deutschland nicht passieren

Warum ich mitten am Tag (hier ist es gerade halb eins mittags) an meinem Laptop sitze und einen Eintrag schreibe? Nun ich muss zugeben der eigentliche Plan war jetzt gerade auf der Arbeit zu sein und so verließ ich wie jeden Tag gegen 11:30 das Haus, fuhr 10 Minuten mit dem Kombi (= Mini-Bus) und lief dann noch weitere 10 Minuten bei knallender Sonne und knappen 30°C zum "Instituto de la Juventud" meinem Arbeitgeber. Einige Angestellte auf dem Parkplatz und jede Menge junge Menschen vor den Eingängen - dieser Anblick verwirrte mich schon leicht und ja, ich hatte recht, heute würde kein normaler Arbeitstag werden. Die Mitarbeiter auf dem Parkplatz begrüßten mich mit: "Du kannst eigentlich gleich wieder nach Hause gehen", denn das IJUM war "eingenommen" worden.

"Eingenommen", das ist noch die bestmögliche Übersetzung für "tomado" (was nebenbei bemerkt in anderem Kontext auch betrunken heißt). Trotzdem verbinde ich das Wort "eingenommen" auf Deutsch eher mit Ritterburgen oder vielleicht noch mit strategisch wichtigen Städten in Kriegen, kurz gesagt mit nichts, das meinen persönlichen Alltag beeinflusst.

Hier ist das anders. Nahezu ständig ist das Stadtzentrum von Demonstranten "eingenommen" oder irgendwo anders eine wichtige Straße, Autos können nicht mehr passieren und in den Ausweichstraßen staut sich der Verkehr. Die Uni streikte Anfang des Jahres wochenlang und seitdem immer mal wieder halbtags, da der Konflikt wohl immer noch nicht gelöst ist. Studenten protestieren regelmäßig gegen die staatliche Bildungsreform, über die aber auch jeder etwas anderes sagt: Einmal ist sie wichtig für die Weiterentwicklung des Landes, soll höhere Ausbildungsniveaus schaffen, durch Prüfungen für die Lehrer, einen anderen Tag höre ich diese Prüfung solle aber nicht fachspezifisch sein sondern Allgemeinwissen abfragen, sei außerdem ein weiteres Türchen für die Korruption und nebenbei schaffe die Reform auch Unterstützungsgelder ab, die Kindern und Jugendlichen in ärmeren Regionen überhaupt erst ermöglichen zur Schule zu gehen, da diese Gelder zu oft zu unrecht erschlichen würden. So etwas wie unabhängige Berichterstattung um sich einmal selbst zu informieren gibt es nicht - Pressfreiheit? Fehlanzeige... auch einen Blogeintrag wert eigentlich.

Was also heute mal wieder los war, ganz einfach ich weiß es nicht. Nicht dass ich nicht nachgefragt hätte, aber die Antwort "Die wollen Geld." hat mich nicht viel weiter gebracht. Generell weiß ich hier nie ob das jetzt alles einzelne Probleme sind oder ob das nicht doch alles zusammenhängt oder ob, wie hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird, hinter der einen oder anderen Unruhe nicht doch das organisierte Verbrechen oder die Politik stecken (sofern man zwischen den beiden Faktoren überhaupt unterscheiden kann).

In Deutschland hätten wir gegen die meisten dieser Unruhen ein gutes Mittel: Staatsgewalt, sprich Polizei, oder einfach gleich schöne ordentliche, genehmigt Demonstrationen. Und hier, naja hier nicht. Nicht dass es nicht genug Polizei gäbe, die fahren hier genauso wie das Militär alle paar Minuten scharf bewaffnet vorbei, doch eingreifen wollen/können/dürfen/sollen sie nicht. Was dieser Haufen Modalverben soll? Ganz einfach, ich verstehe die Gründe selbst nicht. Wenn alles was Macht hat irgendwie zusammenhängt, sich kennt und korrupt ist, ist es nahezu unmöglich zu durchschauen wer die Fäden zieht.

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Da wünsche ich mir manchmal ein wenig deutsche Ordnung her, um mal eine elegante Überleitung zu einem Themawechsel um 180° einzubringen. Ich will hier keine Klischees verbreiten, aber fest steht, hier in Mexiko verstehe ich unser deutsches Wertesystem besser, da ich das mexikanische eben nicht immer verstehe, und lerne es entsprechend auch besser zu schätzen. Nicht weil es für alle besser ist, sondern weil es für mich besser ist, weil ich damit aufgewachsen bin und dafür erzogen wurde. Klingt jetzt sehr theoretisch, zur Erklärung zwei Beispiele:

Erstens wird mir hier vorgeworfen ich sei so "seria". Übersetze ich das jetzt mit "ernst" fühle ich mich beleidigt, denn ich bin nicht ernst. Ich lache viel und gerne, über wirklich lustige sowie einfach nur alberne Dinge. "Seria" ist man hier aber schon, wenn man wenig redet, auch wenn man die Person, mit der man da so wenig redet erst seit einigen Minuten oder Stunden kennt. Und wer mich kennt, wirklich kennt, sprich mindestens seit Monaten oder besser seit Jahren, weiß, mein Repertoire reicht von mucks-mäuschen-still bis plappern wie ein Wasserfall und bei sich fast überschlagender Stimme. Das hängt von der Situation ab, vor allem davon wie vertraut ich mit meinen Gesprächspartnern bin. Ich weiß nicht ob das ein persönliches oder ein tendenziell deutsches Verhaltensmuster ist, aber ich weiß, es ist kein mexikanisches. Den meisten Leuten hier fällt es leicht gegenüber völlig Unbekannten ein Gesprächsthema nach dem anderen aus dem Ärmel zu schütteln. Ich persönlich kann das nicht und bevorzuge Schweigen gegenüber an den Haaren herbeigezogenen Fragen, deren Antwort mich ja vielleicht auch eigentlich gar nicht interessiert. Fazit ich bin "seria". "Gut und du redest mit zu viel Mist!", könnte ich antworten, doch wir, die Mexikaner und ich, würden aneinander vorbeireden, da wir unterschiedliche Werte und Erziehung haben.

Zweites Beispiel: Höflichkeit. Seitens Mexikanern wurde mir gegenüber schon häufiger die Bemerkung geäußert, Deutsche seien weniger höflich als Mexikaner. "Was'n Blödsinn!" Wäre da die erste Antwort die mir einfällt. Ein paar Sekunden und einige Gedankengänge später würde ich sie aber wohl um "Wie definieren Höflichkeit nur anders." erweitern. Woher diese Bemerkung kommt? Wohl von der deutschen Direktheit. In Deutschland gilt konstruktive Kritik als positiv. Hat man ein Problem mit einer Person, ein Problem dieser Art, dass sich lösen lassen könnte wenn man es anspricht, wird es eben angesprochen. Das finde ich höflicher als mich bis auf alle Zeit stillschweigend oder aber im Gespräch mit anderen, hinterm Rücken der betroffenen Person darüber aufzuregen. Warum finde ich das höflicher? Weil ich in Deutschland aufgewachsen bin. Ein Mexikaner oder ein Mexikanerin könnte sich ganz schön vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn ich so offen mit Kritik an ihnen käme, und sei diese noch so konstruktiv. Er oder sie fände mich womöglich unhöflich, weil ich nicht einfach meine Klappe halten kann wenn dies aus ihrer Sicht angemessen ist.

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Fazit, manchmal bekomme ich Lust wieder in einem Land zu leben, in dem ich auf Recht und Ordnung vertrauen kann und in dem ich mich absolut auskenne, sprich in Deutschland. Andererseits werde ich jedes Mal wenn ich an den Abschied denke regelrecht melancholisch, habe ich mir doch auch hier ein so schönes Leben eingerichtet. Fest steht, in drei Monaten fliege ich nach Hause, vor allem mit positiven Erfahrungen im Gepäck, die das Jahr zum außergewöhnlichsten meines Lebens machen aber auch mit der einen oder anderen negativen oder nachdenklich machenden. Beides trägt dazu bei, dass die Entscheidung für ein Jahr hier herzukommen eine der wohl besten war, die ich je getroffen habe.

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