Sonntag, 23. Juni 2013

Alle Wege führen in die USA

Die einzige direkte Staatsgrenze zwischen einem "Industrieland" und einem "Entwicklungsland": Die häufig verwendeten jedoch politisch nicht mehr ganz korrekten Begriffe "1. Welt" und "3. Welt" scheinen schon zu implizieren, dass eigentlich eine ganze Welt dazwischen liegt. (Das "Fehlen" der "2. Welt" liegt tatsächlich aber daran, dass dieser Ausdruck ursprünglich den kommunistischen Block beschreibt, der heute als solcher nicht mehr existiert.)

Die einzige solche Grenze also - und was für eine:  3.150km Sicherheitszaun, Grenzfluss und Wüste, illegal über- unter- oder durchquert von jährlich hunderttausenden oder doch millionen Menschen (darunter nicht nur Mexikaner, sondern etwa auch Menschen aus Guatemala, El Salvador oder Honduras), und 20 Grenzübergänge, die für jene Mexikaner offen stehen, die das Glück haben legal einreisen zu dürfen.

Während die USA Milliarden für die Grenzsicherung ausgeben, sind die Überweisungen mexikanischer Migranten an ihre Familien zuhause nach Erdöl die zweitwichtigste Einnahmequelle Mexikos. Klingt als seien die USA die Leidtragenden der geographischen Begebenheit. Das stimmt so allerdings auch nicht, denn dank des nordamerikanischen Freihandelsabkommens zwischen Kanada, den USA und Mexiko, abgekürzt NAFTA für North American Free Trade Agreement, haben US-amerikanische Firmen Mexiko einerseits als billiges Produktionsland für sich entdeckt - "maquiladores", Fertigungsfabriken, säumen die mexikanische Seite der Grenze - als auch als wertvollen Absatzmarkt. Und so zahlen die Mexikaner mit jeder Coca-Cola, die sie trinken (und ich erinnere daran, dass bei meiner alten Gastfamilie zu jedem Mittagessen die 2,5l Flasche auf dem Tisch stand) doch wieder an die USA zurück.

Zurück aber zur Migration: Dieses Thema wurde in der Schule immer gut diskutiert. Im Spanisch Unterricht, wenn es gerade um Mexiko ging und noch einmal mehr im Englisch Leistungskurs, dessen Schwerpunkt deutlich auf Integration und Multikulturalismus lag. Damals, auf der anderen Seite des Atlantiks, hatten wir zwar unzählige Stichpunkte parat, Beispiele für gute Immigration und kulturelle Bereicherung, Beispiele für die Bildung von Enklaven und und und, trotzdem war das eigentliche Problem unendlich weit weg. Jetzt, immer noch in sicheren 1000 km Entfernung von der Grenze, findet das ganze jedoch um mich herum statt:

Meine Gastfamilie (aus Huecorio) erzählt mir von ihren Kindern in den USA, von den Enkeln die so fließend diese unbekannte Sprache sprechen. Ich grüße sie per Videoanruf.
Mal ist meine Gastmutter stolz zu berichten, dann wieder den Tränen nahe wegen der Trennung von ihren geliebten Kindern.
Ein Paket kommt an, voller getragener amerikanischer Kleidung, die meine Familie dann hier verkauft.
Männer die einmal in den USA waren, jetzt aber wieder im Dorf leben versuchen bei mir mit ihren Englisch-Kenntnissen zu prahlen. (vergeblich)
Man erzählt mir warum im Dorf so viele Häuser leerstehen und verfallen: Die Besitzer sind in den USA und interessieren sich nicht mehr dafür.
Der Cousin meiner neuen Gastfamilie in Morelia, aufgewachsen in den USA, kommt vorbei und spricht Spanisch mit noch mehr Akzent als ich.
...

So habe ich auch meine Stichpunkte aus dem Englisch Leistungskurs etwas überdenken können: Es ist eben nicht immer der große "American Dream", vom Tellerwäscher zum Millionär, einzig durch harte Arbeit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Das ist viel zu ideologisch, viel zu weit in die Zukunft gedacht und damit viel zu weit weg von der Realität der Menschen. Den Eindruck, den ich vom Leben und den Menschen hier habe, ist vielmehr, dass sie von Moment zu Moment, Tag zu Tag, Jahr zu Jahr leben - nehmen was kommt, keine großen Pläne machen, die dann doch wieder überworfen werden würden. Das Leben ist hier spontaner und dadurch gleichzeitig einfacher und komplexer. Komplexer weil die willkürlichen Faktoren Korruption und organisiertes Verbrechen mitspielen oder weil im Krankheitsfall eines Verwandten die ganze Familie der Versicherer ist, nicht der Staat, und einfach mal ihr ganzes Erspartes abgibt. Aber auch einfacher, weil der Umgang damit erfordert spontan und flexibel zu sein und keines Planes bedarf. Das ist meine Interpretation. Vielleicht ist sie völliger Schwachsinn, aber so ist mein Eindruck.

Ein "American Dream" passt in das beschriebene Bild also wenig. Klar, es geht um Geld; selbst ungelernt, verdient es sich in den USA besser als hier. Und bei 0 Tagen gesetzlichem Urlaubsanspruch im ersten Jahr, 6 die darauffolgenden nach ein paar Jahren schließlich 12 wohlgemerkt bei Arbeit von Montag bis Samstag, naja da kann einen auch illegale Arbeit ohne Vertrag und ganz ohne Ansprüche nicht mehr groß schocken. Es geht also um Geld, aber der eigentlich "American Dream" beinhaltet vor allem Aufstieg. Zumindest illegale Einwanderer aber bleiben zumeist ungelernte billige (Saison-)Arbeiter. Und das wissen sie auch. Doch wenn sie dann mit ihrem neuen Auto nach Mexiko zurückkehren und mit ihren Freunden und einem Sixpack Bier über die Schotterstraßen ihres Ranchos fahren sind sie dennoch Helden und inspirieren die Jüngeren es ihnen nachzutun.

Ach ja: notiere neben Geld zwei weitere Gründe oder zumindest Auslöser sich letztlich für die Ausreise zu entscheiden: 1. Ganz banal: Liebeskummer. 2. Flucht vor den Fängen der Drogenmafia... klingt mehr nach Amerikanischem Alptraum.

Und warum dieser Artikel genau jetzt?
Vor ein paar Wochen hat meine Gastschwester Alejandra die Ausreise gewagt - illegal. Das hat bei mir erstmal Schreckensbilder hervorgerufen. Ich sah sie im Rio Grande ertrinken, von Hunden gejagt durch ein Loch im Stacheldraht kriechen und in der Wüste verdursten. 500 Mexikaner sterben jährlich beim Versuch der illegalen Grenzüberquerung. Doch glücklicherweise entsprach nichts von alledem der Realität. Ich weiß nicht viel von ihrer Ausreise, nur dass sie zufällig über eine Freundin einen "Koyoten", einen Schleuser, kennenlernte, ihm eine Summe zahlte an die ich mich nicht mehr erinnere, aber die mir die Sprache verschlug und wohl den Rio Grande auf einem Boot überquerte. Klingt einfach, wären sie aber geschnappt worden wäre an Land eine ziemlicher Sprint gen Freiheit oder aber Abschiebung gefolgt. Jetzt ist sie bei ihrer Schwester in Los Angeles.

Und auch mein Gastbruder Chapis steht in den Startlöchern. Er hatte allerdings keinen Schleuser kennengelernt, sondern jemanden der Kontakt zu den offiziellen Behörden hat und ihm daher legale Papiere beschaffen kann. Diese sind gerade in Arbeit.

Und meine Familie? Nun die versucht sich in Optimismus, doch Traurigkeit und Sorge sitzen tiefer. Drei Kinder sind schon in den USA. Bald werden es fünf von sieben sein.
Die Arbeit in den USA mag wirtschaftlich lohnenswert sein, doch sie zerreißt Familien.

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